Aus Geometrische Bilder Heft 20 (1964) der Saarbrücker Hefte
Reinhard Lehnert:

Die Bausteine des Kunstwerkes

Der Mensch versteht, wie gesagt, die Außenwelt, weil diese in ihm nicht nur Sinnesempfindungen bewirkt, sondern durch ihre Gegenstands- und Gesetzesstruktur auch Wahrnehmungs- und Verstandesfähigkeiten anspricht, weil die Struktur der Außenwelt zum Raster der erkennenden Seelenkräfte paßt, weil diese Struktur und dieser Raster ineinander einrastern.

Der Mensch kann entsprechend die Scheinwelt eines Kunstwerkes nur dann innerlich aufnehmen, wenn die Struktur dieser Scheinwelt den Raster seiner Seelenwelt anspricht, wenn das Werk nicht nur Sinnesempfindungen bewirkt, sondern darüber hinaus Vorgestalten, Vorbegriffe oder Begriffe des aufnehmenden Menschen anspricht. Das ist nur dann der Fall, wenn das Kunstwerk aus vorgeformten Elementen, aus bereits bekannten Gegenständen oder Gegenstandsformen der Außenwelt, der seelischen Welt oder der Geisteswelt erbaut ist. Wir nennen diese Elemente die Bausteine oder die Vokabeln des Kunstwerkes. Den Werken der Musik in der klassischen Auffassung liegen zugrunde die Töne und die Tonintervalle einer fest gegebenen Tonleiter, allenfalls der Zwölftonleiter, viel leicht auch einer Vierundzwanzigtonleiter, jedenfalls aber einer festen Tonleiter. Weiter die Zeitstrecken und Zeitstreckenverhältnisse, die Intensitätsstufen und Intensitätsstufenverhältnisse des zugrundeliegenden Taktes und Rhythmus'. Schließlich auch die bekannten KIangfarben der benutzten Instrumente.

Di Werke der Dichtskunst sind erbaut aus Sätzen, Worten und Lauten der jeweils zugrundeliegenden Sprache. Der Dichter hat die Gesetze der Logik, der Grammatik und der Wortlehre zu beachten. Er kann zum Beispiel nicht des Reimes wegen etwa vom Worte "Haus" das "s" weglassen. Er muß mit fertigen, mit vorgeprägten Worten arbeiten, also mit vorliegenden, mit vorgegebenen "Bausteinen". Die Werke der Architektur verwirklichen die geometrischen Urgestalten der ebenen FIäche, der geraden Kante, des rechten Winkels, des Rechtecks, des Quaders, des Zylinders, des Kegelstumpfes, des Kreises. Die Werke der Plastik, des Kunstgewerbes, des Tanzes, des Puppenspieles und der Mimik verwirklichen geometrische, bewegungsgeometrische und organische Urgestalten.

Die gegenständliche wie auch die gegenstandsfreie Zeichen- und Malkunst benutzen Urformen der Geometrie und der Außenwelt, wobei die gegenstandsfreie Kunst auf gewisse kompliziertere Formen dieser Art, etwa auf die Form "menschliches Gesicht oder "Pferdekopf', verzichtet.

Es sei besonders hervorgehoben : Eine Bausteinverständlichkeit des Kunstwerkes im. Sinne eines Aufbaus aus wahrnehmungsverständlichen Bausteinen bedeutet noch lange nicht, daß auch das Kunstwerk als Ganzheit wahrnehmungsverständlich wäre. Dazu sind ein gestufter Aufbau und eine Letztganzheit des Werkes erforderlich.

Schließlich bedeutet auch eine Wahrnehmungsverständlichkeit des Werkes als Ganzes für die erkennenden Seelenkräfte noch lange nicht, daß das Werk auch einen künstlerischen "Sinn" hat und in diesem seinen Sinn verstehbar oder deutbar ist. Der Aufbau des Kunstwerkes aus wahrnehmungsverständlichen Bausteinen ist jedoch notwendige Voraussetzung für die genannten höheren Stufen der Verstehbarkeit. Über den Aufbau des Kunstwerkes und das Wesen der Kunst vergleiche man Broder Christiansen[6]!.


[6] Broder Christiansen, "Die Kunst", Felsen Verlag, Buchenbach i.Br., 1930; ich kenne kein an Wert vergleichbares Werk über das Wesen der Kunst und wünsche dem Buch eine baldige Neuauflage.


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